Globalisierung, Digitalisierung, veränderte Werte und eine erhöhte Dynamik der Märkte sind verantwortlich für den Wandel unserer gewohnten Arbeitswelt. Neue Organisationsformen und Arbeitskulturen entstehen, das klassische Hierarchiemodell schafft sich mehr und mehr ab. Aber wie funktioniert das im Arbeitsalltag? Es gibt positive Vordenker aus der Region.
A N N A - L E N A G R Ö N E R
Zwei Aspekte verdienen in der neuen Arbeitswelt besonderes Augenmerk: Unternehmen müssen den Zusammenhalt und die Identifikation zum Unternehmen stärken und die Grundlage für Motivation, Kreation und Innovation erhalten“, heißt es in der Studie „Arbeitswelt im Umbruch“ von der Universität St. Gallen aus dem Jahr 2016. Längst misst sich Erfolg nicht mehr in reinen Produktions- und Umsatzzahlen. Das Streben nach Quantität und immer neuen Rekorden ist langsam erschöpft. Auf ein immer-mehr-erreichen-wollen folgt ein dem-Ganzen-einen-Sinn-geben. Laut genannter Studie gibt es neue unternehmerische Erfolgsfaktoren: eine Führung mit Vision und Inspiration, eine Vertrauenskultur, flexible Strukturen und die Selbstkompetenz der Mitarbeiter.
Betriebe, die dennoch an alten Leistungsmustern, strengen Hierarchien und frühindustriellen Arbeitsbedingungen festhalten, verpassen den Anschluss. Wer in der VUCA Welt (übersetzt: Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit) bestehen möchte, sollte eine nachhaltige und vorausschauende Veränderung zulassen. Wer aber glaubt, mit neuen Arbeitsmodellen, einem open-space Büro und neuester Technik sei der Wandel vollzogen, der glaubt auch, dass mit Elektroautos der Klimawandel gestoppt wird. So einfach ist es eben nicht.
Sinnhaftigkeit, Agilität und Selbstorganisation – das Triumph-Trio der Zukunft.
„Wenn wir die herausfordernden Probleme unserer Zeit lösen wollen, werden wir neue Organisationsformen brauchen – stärker sinnorientierte Wirtschaftsunternehmen, beseelte Schulen, wirkungsvollere gemeinnützige Organisationen“, schreibt Wirtschaftsphilosoph Frédéric Laloux in seinem Buch „Reinventing Organizations“ (erschienen 2014. Wer sein Unternehmen neu denken und lenken will, kommt an diesem 352-Seiten-Werk nicht vorbei).
Laloux macht darin deutlich: besonders die Führungsebene ist gefordert. Statt kommandieren und kontrollieren, müssen sie lernen Verantwortung abzugeben und flache, netzwerk-artige Organisationsformen aufzubauen. Laloux rät zu weniger Selbstsucht und mehr Mut. „Viele Missstände in heutigen Unternehmen können auf Verhaltensweisen ängstlicher Egos zurückgeführt werden.“ Den Chefs des 21. Jahrhunderts geht es an den Kragen, jedoch mit positiven Absichten.
Peter Behrendt, Geschäftsführer des 2018 gegründeten Coachingzentrums Freiburg, und sein Team beraten Unternehmen bei ihrem Wandel in die neue Arbeitswelt. Für den 42-jährigen Arbeits- und Organisationspsychologen liegt der Fokus dabei vor allem bei der Entwicklung und Erarbeitung einer neuen Arbeitskultur: Eine gemeinsame Orientierung, positiver Drive statt negativem Druck und Vertrauen zwischen den Hierarchieebenen seien „die essenziellen Grundfaktoren, die es in einer neuen Kultur braucht. Wenn diese gelingen, ist es gar nicht so wichtig, wie die Struktur ist“, sagt Behrendt. An eine komplette Abschaffung der Hierarchie glaubt der Berater noch nicht, aber er bestätigt, dass sich ihre Rolle stark verändert und damit vor allem die des Unternehmensführers: „Ich brauche in dieser Situation jemanden, der viel kompetenter darin ist, Motivation, Kommunikation, Vertrauen und Stimmung aufrechtzuhalten.“ Weg vom so-wird’s-gemacht-Chef hin zum wir-schaffen-das-Motivator. Aber nicht nur die Geschäftsführung muss umdenken, um fit für die Zukunft zu sein, auch Mitarbeiter müssen selbstorganisiertes und eigen-verantwortliches Arbeiten lernen.
Martin Thoma, Projekt- und Personalleiter beim Freiburger Medizintechnikhersteller Stockert, erinnert sich, wie es vor allem den Mitarbeitern schwergefallen ist, plötzlich selbstverantwortlich zu handeln, eigene Entscheidungen zu treffen und auch für die Konsequenzen geradezustehen. Vier Geschäftsführerwechsel in wenigen Jahren hatten im einstigen Familienbetrieb unterschiedliche Einflüsse und ein unklares wohin-wollen-wir-Ziel zur Folge. Bei Stockert war man über dreißig Jahre klassisch „top-down“ organisiert, die interne Kommunikation kannte nur einen Weg, neue Anreize und Organisationsformen blieben auf der Strecke.
„Anfang 2019 kam die Idee, dass man aus seinen Mitarbeitern auch neue Führungskräfte entwickeln kann“, sagt Thoma. Gemeinsam mit dem Coachingzentrum Freiburg und Peter Behrendt als Berater organisierte man innerhalb des Unter-nehmens ein „Change Team“: Zehn Mitarbeiter aus allen Ebenen wurden dafür ausgesucht. Sie wurden ein Jahr gecoacht, haben verschiedene Gesprächsformate mit der Geschäftsleitung geführt und eine Arbeitskultur herausgearbeitet, nach der man bei Stockert arbeiten möchte.
Mit dem „Change Team“ sei nicht nur eine neue Kultur und Arbeitsmotivation entstanden, sondern gleich eine völlig neue Führungsebene. Diese kümmert sich seither um das operative Geschäft. Das Management ist geblieben und vor allem für die strategischen Maßnahmen zuständig.
Bei Stockert gibt es noch eine Hierarchie, doch durch die höhere Eigenverantwortung, das neue interne Netzwerk und das gesteigerte Vertrauen zwischen allen Ebenen ist sie wesentlich flacher geworden und das Unternehmen in der Folge agiler. „Gerade das Coronavirus zeigt, wie gut oder eben schlecht man in einer Krise organisiert und aufgestellt ist“, sagt Martin Thoma. „In unserem Unternehmen funktioniert das aktuell sehr gut.“
Der Chef wird zum Raumgeber
Beim Thema Veränderung geht der Freiburger Pflegedienst „Ich & Du“ noch einen Schritt weiter. Die klassische Hierarchie wurde abgeschafft, stattdessen arbeiten die 35 Mitarbeiter in völlig selbstorganisierten Teams. Vorbild für diese Organisationsform ist der niederländische Kranken-pflegedienst „Buurtzorg“, der 2006 von Jos de Blok gegründet wurde. Autor Frédéric Laloux bezeichnet „Buurtzorg“ als „bestes Fallbeispiel, um den Übergang vom heute vorherrschenden Organisationsmodell (modern-leistungsorientiert) zum neu entstehenden Paradigma integraler evolutionärer Organisationen zu beschreiben.“
Im April 2017 entstand die Freiburger Ich & Du Pflege GmbH aus einem bereits bestehenden Unternehmen. Es wurde somit nicht völlig neu auf-, sondern komplett umgebaut, was viele Herausforderungen mit sich brachte. „Was sich relativ einfach Selbstorganisation nennt und bei Laloux auf sehr inspirierende Weise dargestellt ist, heißt im Alltag nicht weniger als ein kompletter Paradigmenwechsel des Umgangs miteinander und der Verantwortungsübernahme. Wir merken bis heute immer wie-der die Fallstricke, in alte hierarchische Strukturen zurückzufallen, in denen wir sozialisiert wurden“, sagt Geschäftsführer und Gründer Jörn Schinzler.
Seine Mitarbeiter arbeiten in insgesamt fünf Pflegeteams, vier davon im Freiburger Raum, eines im Münstertal. Die ideale Teamgröße sind acht bis zehn Pflegekräfte, alle Teams entscheiden ohne einen Vorgesetzten völlig selbstständig – von der Mitarbeiter- und Kundenaufnahme bis hin zum Dienst- und Tourenplan. Weitreichendere Entscheidungen, wie Gehaltserhöhungen oder Materialaufwand, werden von einem so genannten Pflegedienstleitungs-Gremium (PDL-Gremium) getroffen, das sich einmal im Monat zusammenfindet.
In sogenannten Kreisentscheidungen äußert jede Person ihre Meinung zu einem bestimmten Thema, durch das Konsent-Verfahren, ein vorschlagorientierter Prozess, werden schließlich gemeinsame Entscheidungen getroffen. „Anders als beim Konsens, geht es beim Konsent darum, dass niemand einen schwerwiegenden Vorbehalt hat. Dadurch entsteht eine andere Art von Entscheidungsqualität und Gemeinsamkeit.“ Langwierig seien diese Entscheidungswege nicht, versichert Schinzler. „Es gibt bei uns kein Statusdenken, kein ‚mein Team vor dem anderen‘. Das sind Dinge, die normalerweise Entscheidungen schwer machen.“ Die Rolle des 47-jährigen Geschäfts-führers habe sich im Laufe der Jahre genauso verändert, wie es die evolutionäre Organisationsstruktur des Pflegedienstes ständig tue. Vor einem halben Jahr hat Schinzler beispielsweise sämtliche Entscheidungskompetenz an das PDL-Gremium abgegeben. Darin ist er zwar vertreten, jedoch in einer anderen Rolle, zum Beispiel der, das System immer weiterzuentwickeln und immer neue Impulse einzubringen. Als Chef wurde Jörn Schinzler von seinen Kollegen noch nie bezeichnet, „meine Teams nennen mich Raumgeber – ich gebe ihnen den Raum so zu arbeiten, wie sie wollen.“
Der moderne Chef schafft sich ab. Nicht mehr er ist der Experte mit mehr Macht und Entscheidungsgewalt, sondern die Mitarbeiter werden zu Experten. Sie sind im Alltag am Kunden, an laufenden Projekten oder am Produkt. Der Chef wird zum Unterstützer. Zusammen mit seinen Mitarbeitern schafft er neue Organisationsformen und Arbeitskulturen, gemeinsam lernt man dazu, passt sich immer wieder neu an und differenziert seine Unternehmenskultur deutlich von den anderen. Am Ende sind das die neuen Chancen, um im Wettbewerb zu bestehen.
Comentarios